Wichtige Wegweiser auf dem Weg zur Klimaneutralität

01. Dezember 2021
8 min read

Der Klimawandel schreitet voran. Damit steigt auch die Notwendigkeit, Maßnahmen zur Verlangsamung der Erderwärmung und für den Übergang zu Netto-Null-Emissionen zu ergreifen. Zur Lösung müssen alle Seiten beitragen: Politiker, Unternehmen, Vermögenseigner, Anlageverwalter, Wissenschaftler und auch Privatpersonen. Im Folgenden sind einige Top-Themen aufgeführt, die in unseren jüngsten Gesprächen mit Klimaexperten, Vermögenseignern und anderen Stakeholdern aufgetaucht sind, während die Welt versucht, diese drängende Herausforderung zu meistern.

Eine globale Herausforderung erfordert interdisziplinäre Zusammenarbeit

Neuen Erkenntnisse zufolge sind die Folgen des Klimawandels weitaus gravierender als noch vor wenigen Jahren vermutet. Der Klimawandel ist ein stark nichtlinearer Prozess, der in einer wellenartigen Abfolge von Ereignissen verläuft. Die Fortschritte in der Klimamodellierung zeigen, dass das Szenario einer Erwärmung um 2°C immer mehr genauso bedrohlich erscheint wie das Szenario einer Erderwärmung um 4°C noch vor wenigen Jahren und dass die Extremrisiken stark unterschätzt werden.

Noch kann die Welt diese drängende Herausforderung meistern und die Emissionen rechtzeitig auf Netto-Null reduzieren. Bis 2030 ist sogar eine Reduktion um 50% möglich, unterstützt durch eine andere Haltung der Anleger und sinkende Preise für erneuerbare Energien. Das Erreichen der auf nationaler Ebene festgelegten Beiträge gemäß dem Übereinkommen von Paris wird ein Marathon sein, und niemand hat alle Antworten parat.

Um dem Netto-Null-Ziel näherzukommen, müssen sich drei große Bereiche zusammenschließen: Politik, Privatwirtschaft und wissenschaftliche Expertise. Die Politik muss einen aufsichtsrechtlichen und steuerlichen Rahmen schaffen, der die Maßnahmen im Privatsektor regelt und Geschäftsmöglichkeiten eröffnet. Anreize und Mandate sind nötig, um die Offenlegung von klimabezogenen Informationen und Daten und mehr Transparenz zu fördern.

Der Privatsektor muss Vorreiter auf dem Weg zur Klimaneutralität sein. Der Umfang der für den Übergang erforderlichen Investitionen ist atemberaubend. Einige Schätzungen beziffern den Investitionsbedarf bis 2050 auf rund 100 Billionen US-Dollar, größtenteils aus nichtstaatlichen Quellen. Vermögenseigner, Investoren und andere Stakeholder müssen gemeinsam dafür sorgen, dass dieses Kapital in Lösungen fließt und dass Emittenten ihr Kapital so einsetzen, dass es dem anvisierten Netto-Null-Ziel zugutekommt, ohne dabei ihre treuhänderischen Pflichten zu vernachlässigen.

Ein wichtiges Instrument zur Lenkung dieses Kapitals ist das anhaltende Wachstum des Marktes für ESG-konforme Anlagen. Dazu gehören traditionelle Anlagen, die ESG-Kriterien einbeziehen, oder zweckgerichtete Strategien. Angesichts des immensen Kapitalbedarfs muss das Lösungsspektrum erweitert und diversifiziert werden, um maßgeschneiderte Lösungen für Klimaschutz und Innovation einzubeziehen. Nicht der Abzug von Kapital, sondern zielgerichtete Investitionen ebnen den Weg zur Klimaneutralität.

Daneben dürfen wir auch die entscheidende Rolle von Klimawissenschaftlern, Ökonomen und Politikexperten nicht außer Acht lassen. Denn sie verfügen über enormes Wissen, Zugang zu riesigen Datenmengen und gute Verbindungen zu öffentlichen Forschungsinitiativen. Klimaexperten und ihre Kollegen aus anderen Disziplinen können Anlegern helfen, den Klimawandel besser zu verstehen und ihre Analysen und Instrumente zur Dimensionierung von Risiken und Chancen zu schärfen.

Investoren müssen Klimawissen und Instrumente verbessern

Angesichts der enormen Mengen an Kapital aus dem Privatsektor, die für die Finanzierung des Übergangs zur Klimaneutralität benötigt werden, muss dieses Kapital unbedingt effektiv eingesetzt werden. Vermögenseigner und Investoren stehen bei diesen kritischen Entscheidungen an vorderster Front. Investoren müssen Übergangspläne von Unternehmen bewerten, neue Möglichkeiten ausloten oder sich für bessere Verhaltensweisen einsetzen. Daher müssen sie ihr Wissen über den Klimawandel verbessern.

Die analytische Herausforderung an sich ist schon enorm. Es geht nicht nur darum, die Gesamtemissionen eines Emittenten zu bestimmen oder ob er auf ein 2°C-Szenario ausgerichtet ist oder nicht. Analysten müssen die physischen und die Übergangsrisiken des Klimawandels in den Gewinn- und Verlustrechnungen, Bilanzen und Geschäftsmodellen abbilden, um Schwachstellen und Chancen zu erkennen. Welche Auswirkungen haben der Klimawandel und der Übergang zur Klimaneutralität auf Umsatz und Kosten eines Emittenten? Wie wird sich der Übergang auf Marktanteil und Produktmix auswirken? Es gibt direkte Klimakosten (etwa CO2-Steuern) und indirekte (Kosten für Abluftreinigungsanlagen). Da die Anforderungen an die Klimaberichterstattung strenger werden, müssen Investoren Nachhaltigkeitsberichte und Emissionsdaten kritisch prüfen.

Ebenso wichtig ist der Dialog, um Risiken und Chancen zu verstehen, aber auch um Fortschritte voranzutreiben. Wir haben mit Blick auf das Netto-Null-Ziel die Fragen nach dem „Ob“ und „Warum“ beantwortet. Vermögenseigner und Investoren müssen nun dabei helfen, die Frage nach dem „Wie“ zu klären. Die Übergangspläne der Emittenten müssen schnell und genau bewertet und die Analyse von Emittenten muss ausgeweitet werden. Der Dialog ist sowohl bei den Börsenschwergewichten in Industrieländern als auch bei Unternehmen in Schwellenländern ein probates Mittel, um sie für Lücken in den Plänen zum Erreichen der Klimaneutralität in die Pflicht zu nehmen.

Gezielte Engagementkampagnen können dabei ebenso hilfreich sein wie ein gemeinsames Engagement durch internationale Koalitionen. Die Fortschritte auf dem Weg zum Netto-Null-Ziel können in kleinen Schritten erfolgen, müssen aber greifbar sein. Es muss kein starr vorgegebener Prozess sein, aber die Emittenten sollten ihre Zusagen einhalten, auch wenn dies eine Eskalation von allgemeinen Diskussionen bis hin zu offenen Briefen oder Beschlussvorlagen von Aktionären erfordert. Der Abzug von Kapital ist das letzte Mittel, denn Kapital ist am wirksamsten, wenn es eingesetzt wird und Veränderungen vorantreibt, nicht wenn es fehlt.

Nicht nachhaltige und nachhaltige Branchen spielen eine wichtige Rolle für den Übergang

Die Fokussierung auf das Netto-Null-Ziel und die Notwendigkeit, die Erderwärmung einzudämmen, schlagen sich bereits in den Präferenzen der Anleger nieder. So werden für führende Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit höhere Prämien als für die Nachzügler bezahlt. Es gibt allerdings gute Argumente für nicht nachhaltige, sogenannte „braune“ Emittenten, die nicht zu den führenden Unternehmen gehören, aber große Fortschritte machen und eine entscheidende Rolle für den Übergang spielen.

Ein Beispiel dafür ist der Markt für Elektrofahrzeuge. Elektroautos sind ein wichtiges Element im Plan zur Erreichung von Klimaneutralität, und die Autohersteller arbeiten an Business Plänen, um den Absatz anzukurbeln – motiviert durch die Nachfrage der Verbraucher und staatliche Regulierungen. Elektroautos brauchen allerdings Batterien, und die Lieferkette für die Komponenten dieser Batterien hängt von traditionellen braunen Industrien ab, insbesondere vom Abbau von Lithium, Kobalt, Nickel und anderen Mineralien.

Anlagekapital muss entlang der gesamten Wertschöpfungskette von Elektroautos eingesetzt werden, um Anlagechancen zu nutzen und Wachstum zu fördern. Das bedeutet nicht, dass nicht nachhaltige Branchen und Emittenten nach eigenem Belieben weitermachen können wie bisher. Ein Kapitalabzug aus braunen Sektoren, die Wegbereiter für den Übergang sind, verkennt allerdings, wie komplex die Herausforderung ist, einen ganzen Planeten und die Gesellschaft auf Netto-Null-Emissionen umzustellen, und kann die Fortschritte in Richtung Klimaneutralität behindern.

Stattdessen muss unterschieden werden zwischen Greenwashing – Anleger oder Emittenten, die nur vorgeben, dass ihre Strategien oder Produkte nachhaltig sind, obwohl dies nicht der Fall ist – und Emittenten mit zwar hohen, aber sinkenden Kohlenstoffemissionen. Die Beiträge dieser Unternehmen, die sich auf dem Weg in Richtung Netto-Null verbessern, gehen weit über das Beispiel von Elektrofahrzeugen hinaus. Unternehmen, die Großbauprojekte durchführen, sind unverzichtbar für den Bau von Windturbinen oder Staudämmen sowie für die Befestigung oder Verlegung von Gebäuden in Gebieten, die durch steigende Meeresspiegel und Unwetter gefährdet sind.

Pragmatisch sollten braune Branchen und Unternehmen entlang eines Kontinuums betrachtet werden. Denn sie sind für den Übergang zu Netto-Null-Emissionen von entscheidender Bedeutung und brauchen Zeit, um sich – gefördert durch aktives Engagement – anzupassen und weiterzuentwickeln. Unternehmen haben für diese Verbesserungen jedoch nicht unbegrenzt Zeit, und Vermögenseigner, Investoren und die Gesellschaft sollten auf Fortschritte pochen.

Datenbedarf: Bessere Qualität, bessere Verfügbarkeit und Kulturwandel

Daten und Informationen spielen eine Schlüsselrolle bei der Messung von Klimarisiken in Anlageportfolios, der Bewertung der Fortschritte von Emittenten auf ihrem individuellen Weg zur Klimaneutralität oder bei der Beurteilung, wie private Investitionen am besten eingesetzt werden, damit der Übergang gelingt.

Ein Beispiel dafür ist die Modellierung des Klimarisikos. Die verfügbaren Modelle sind noch jung und weisen vielfältige Ansätze, Stärken und Schwächen auf. Die Ausweitung der Analyse von Zielunternehmen sollte Datenpriorität haben, damit Vermögenseigner die Einhaltung von deren Zusagen zur Klimaneutralität besser bewerten können. Börsennotierte Titel werden recht umfassend analysiert. Daten über nicht börsengehandelte Papiere und Kategorien wie Derivate sind dagegen schwerer zu finden. Vermögenseigner haben Vermögensverwalter um Hilfe gebeten und sogar Berater eingestellt, damit diese sich ausführlich mit bestimmten Vermögenswerten befassen.

Fortschritte in der Datenerfassungstechnologie könnten helfen, die Treibhausgasemissionen weltweit zu verifizieren, auch wenn bis dahin noch einige Jahre vergehen werden. Durch die Weiterentwicklung von Sensorplattformen, einschließlich Mini-Satelliten und Drohnen, könnten Emissionen an schwer zugänglichen Orten erfasst werden. Wenn sich die Verfügbarkeit von Daten in den nächsten Jahren verbessert, können Klimawissenschaftler Anlegern und Vermögenseignern helfen, wichtige Informationen abzuleiten.

Was können Stakeholder tun, während die Daten zum Netto-Null-Ziel aufholen? Die Daten zu den Scope-1-Emissionen sind relativ gut, bei den Daten zu Scope 2 und 3 sind einige Aspekte nützlich, müssen aber noch verfeinert werden. Am besten ist es derzeit, Daten zu Scope 1 und 2 zu verwenden und gleichzeitig zu bedenken, dass zur Interpretation der Berechnungen des Fußabdrucks von Portfolios und Emittenten immer eine Fundamentalanalyse und direktes Engagement erforderlich sein werden.

Es scheint ein breiter Konsens zu bestehen, dass ein Wandel in der Datenkultur willkommen wäre, da der Zugang selbst zu verfügbaren Daten teuer ist. Mehr Transparenz und bessere Normen für den Datenaustausch würden eine Abkehr von der Idee geschützter Daten hin zu allgemein zugänglichen Datenspeichern ermöglichen, die von den Stakeholdern auf ihre Richtigkeit hin überprüft und abgefragt werden können.

Für einen solchen Wandel müssen Unternehmen ihr Zögern bei der Bereitstellung firmeneigener Daten überwinden, das in der Regel mit der Sorge um ihre Reputation oder andere Konsequenzen begründet ist, wenn sich ursprünglich veröffentlichte Daten später als unrichtig erweisen. Regierungen und Abschlussprüfer könnten dabei einbezogen werden, indem sie eventuell eine Art „sicheren Hafen“ für besonders transparente Emittenten und Vorreiter bei der Offenlegung von Klimadaten schaffen.

Der ökologische Aspekt der Klimawende darf den sozialen Aspekt nicht verschleiern

Wir beobachten den Wunsch, beim Übergang zur Klimaneutralität eine starke Verbindung zwischen dem „E“ und dem „S“ in ESG zu erhalten und – eine „gerechte Klimawende“ zu erreichen, wie es im Übereinkommen von Paris heißt.

Arme und Randgruppen leiden stärker unter der globalen Erwärmung und bekommen die Risiken der Klimawende besonders deutlich zu spüren, da ganze Volkswirtschaften und Branchen umgekrempelt werden. Man bedenke dabei die weitreichenden Auswirkungen auf Arbeitnehmer in Regionen mit kohlenstoffintensiven Branchen. Dort wird die Zahl der Arbeitsplätze schrumpfen und sich auf umweltfreundlichere Prozesse und Standorte verlagern, die möglicherweise geografisch nicht erreichbar sind.

Was wird aus geringer qualifizierten Arbeitskräften, wenn das Profil von Arbeitsplätzen grüner wird und andere Fähigkeiten sowie eine andere Ausbildung erfordert? Was passiert mit Städten und Kommunen, die auf Branchen im Niedergang gebaut haben, um ihre sozialen und infrastrukturellen Bedürfnisse zu befriedigen? Man führe sich nur die Auswirkungen im Mittleren Westen der USA vor einer Generation vor Augen, als ein erheblicher Teil der Produktionsbasis ins Ausland verlagert wurde. Die Anlegergemeinde muss auch zur Kenntnis nehmen, dass weniger umweltfreundliche Branchen, auch wenn sie die Wende ermöglichen (Beispiel Elektroautos), weiterhin ökologische Auswirkungen auf Regionen und Menschen haben. Diese Auswirkungen müssen minimiert, gesteuert und behoben werden.

Die Gewährleistung einer gerechten Wende ist eine komplexe Herausforderung. Nur mit gemeinsamen Anstrengungen lässt sich sicherstellen, dass Randgruppen nicht abgehängt werden. Aus Anlegersicht ist die Fähigkeit, soziale Kriterien bei Anlageentscheidungen angemessen zu berücksichtigen, ein wichtiges Instrument. Das Gleiche gilt für die Fähigkeit, Anlagekapital gezielt einzusetzen, um unangemessene Nachteile für Randgruppen zu vermeiden und im Idealfall bessere Ergebnisse zu erzielen.

Zusammenfassung

Diese Themen sind keineswegs eine vollständige Liste der Überlegungen auf dem Weg zur Klimaneutralität. Sie verdeutlichen allerdings, dass Fortschritte und Zusammenarbeit im öffentlichen, privaten und wissenschaftlichen Bereich erforderlich sind, um die ehrgeizigen Ziele und Zusagen zu erfüllen. Die Notwendigkeit pragmatischer Lösungen zieht sich wie ein roter Faden durch die Gespräche, die wir über das Thema Klimaneutralität geführt haben.

Das bedeutet nicht, dass wir unsere Ambitionen im Bereich Klimaneutralität zurückschrauben sollen. Vielmehr heißt es, dass wir uns auf das finale Ziel konzentrieren und gleichzeitig greifbare, sinnvolle Schritte unternehmen sollten, um Fortschritte voranzutreiben, während weltweit bessere Mechanismen, Instrumente und Prozesse entwickelt werden, um diese Bemühungen zu unterstützen. Mit anderen Worten: Wir sollten nicht zulassen, dass der Wunsch nach Perfektion zum Feind des Guten wird.

In diesem Dokument zum Ausdruck gebrachte Meinungen stellen keine Analysen, Anlageberatungen oder Handelsempfehlungen dar, spiegeln nicht unbedingt die Ansichten aller Portfoliomanagementteams bei AB wider und können von Zeit zu Zeit überarbeitet werden.

In diesem Dokument zum Ausdruck gebrachte Meinungen stellen keine Analysen, Anlageberatungen oder Handelsempfehlungen dar, spiegeln nicht unbedingt die Ansichten aller Portfoliomanagementteams bei AB wider und können von Zeit zu Zeit überarbeitet werden.